Die gestrige ARD-Dokumentation „Ausgeliefert“ hatden Online-Versandhändler Amazon in eine böse Krise gestürzt. Die ARD behauptet, dass „Leiharbeiter aus dem Ausland nahezu rechtlos leben“, „eingepfercht in Ferienanlagen“ und von Neonazis bewacht sindund „mies bezahlt“ werden. Amazon habe auf Anfragen der ARD nicht reagiert. Mittlerweile schlägt die Dokumentation hohe Wellen. Online kocht die Empörung der Menschen zu einem Shitstorm hoch, SPD-Abgeordnete im Hessischen Landtag machen sich kurzerhand das Thema zu Nutze und empören sich lautstark – vermutlich, ohne sich im Detail über die Fakten informiert zu haben. Die hessischen Grünen bezeichnen die Arbeitsbedingungen als „vollkommen unakzeptabel“.
Tatsächlich ist die „Dokumentation“ der ARD das Ergebnis einer typisch öffentlich-rechtlichen Berichterstattung über einen vermeintlichen Skandal. Stimmen von Betroffenen werden gezeigt, die fehlende Gesprächsbereitschaft von Amazon kritisiert, eine erdrückende Angst vor Sicherheitsleuten diagnostiziert und eine schlechte Bezahlung angeprangert. Ein für Amazon zuständiger Verdi-Mitarbeiter wird zum seriösen Kronzeugen der ARD-Anklage. Der Zusammenschnitt sieht plausibel aus: so viele Missstände, da muss Amazon doch Dreck am Stecken haben. Tatsächlich gibt es Kritikpunkte wie etwa der Verdacht, dass rechtsextreme Sicherheitskräfte im Umfeld von Amazon beschäftigt sind. Andere Kritikpunkte entbehren einer objektiven Einordnung. So ist die Bezahlung von Amazon-Mitarbeitern gar nicht so „mies“ wie angeprangert. Ein über eine Zeitarbeitsfirma beschäftigter Mitarbeiter aus Spanien verdient im Logistikzentrum Bad Hersfeld zum Beispiel 1.400 € brutto im Monat. Im Friseur-Handwerk werden – laut Tarif – für 39,5 Stunden pro Woche nur 1.3236 € bezahlt. Beide Löhne sind nicht hoch, aber skandalös niedrig sind die Amazon-Löhne nicht. Dass es bei der Arbeit in einem Logistikzentrum nicht nur begeisterte Mitarbeiter gibt, ist auch klar. Da finden sich kritische Stimmen für die „Dokumentation“.
Amazon hat nach Ausstrahlung des Films reagiert, allerdings nur halbherzig. Man prüfe Vorwürfe, nehme Sicherheit und Wohlergehen der Mitarbeiter ernst, dulde keinerlei Diskriminierung oder Einschüchterung. Für jemanden, der mit sehr konkreten Vorwürfen konfrontiert wird, sind diese Aussagen zu lau. Es fehlen konkrete Fakten, Fürsprecher für die Aussagen, harte Gegenargumente. Am Ende ist es ein halbherziger Versuch, die Empörungswelle mit Allgemeinaussagen zu bremsen. Das ist allerdings Fehler Nummer 2.
Fehler Nummer 1 liegt vor der Recherche der ARD. Im Hintergrund wurde das Mitarbeiterthema gegen Amazon getrieben. Geraume Zeit geistert Kritik durch die Welt. Hier hätte Amazon frühzeitig reagieren und sich mit den Treibern des Themas beschäftigen müssen. Dann wäre auch noch Zeit gewesen, Missstände aufzuarbeiten und die Angriffsfläche zu verkleinern. Diese Chance ist vertan.
Jörg Forthmann