Aus dem Imagegau nach dem „Schwarzbuch Lidl“ nichts gelernt
Sagenhafte 169 Millionen Euro hat Lidl im ersten halben Jahr für seine Werbekampagne „Lidl lohnt sich“ ausgegeben. Doch nun hat die Handelskette bös überreizt: Lidl präsentiert sich als toller Arbeitgeber. Verdi kontert: Es herrsche ein „Klima der Angst“ und Lidl wehre sich vehement gegen das Gründen von Betriebsräten. Lesen Sie hier, wie sich der Discounter in die Kommunikationskrise stürzt.
Lidl erfindet sich mit einer crossmedialen Kampagne neu: Beim Discounter gibt es beste Qualität, frisches Obst, gutes Fleisch und – oh weh – glückliche Mitarbeiter. Bäckereivertreter haben sich bereits öffentlich über die Inszenierung mit frischen und leckeren Backwaren aufgeregt, doch das ging im Werbegetrommel von Lidl unter. Greenpeace regte sich über „Lidls Schönfärberei“ auf, und auch das wurde nicht gehört. Doch nun wird es ernst für den Discounter: Verdi nutzt die Werbekampagne als Steilvorlage, um schwere Vorwürfe gegen den Arbeitgeber Lidl vorzutragen.
Das könnten die Kommunikationsmanager vieler Unternehmen gelassen an sich abperlen lassen und darauf hoffen, dass sich der Verdi-Protest zügig versendet. Nicht so bei Lidl. Lidl ist schwer gebrannt vom „Schwarzbuch Lidl“, mit dem Verdi 2004 extrem erfolgreich die Arbeitssituation beim Discounter öffentlich gemacht hat – gekrönt mit eingängigen Schicksalen wie die der Kassiererin, die abends mit nasser Unterhose nach Hause gehen musste, weil Toilettengänge verboten seien. Das Schwarzbuch führte zu deutlichen Imageeinbußen bei Lidl und – so heißt es in der Branche – zu spürbarer Kaufzurückhaltung der Kunden. Das „Schwarzbuch Lidl“ hat weh getan.
Krisen-PR weil die Vorgeschichte des Unternehmens vergessen wurde
Doch nun erfindet sich Lidl neu. Im Imagespot wird die Frage, woran ein guter Arbeitgeber zu erkennen ist, charmant beantwortet mit: „Nicht am richtigen Sitz der Krawatte oder dem exponierten Sitz der Firmenzentrale, sondern daran, wie wichtig ihm seine mehr als 70.000 Mitarbeiter sind. Das bei ihm jeder alles werden kann.“ Oder: „Nur Dank unserer Mitarbeiter können wir selbstbewusst sagen: Lidl lohnt sich.“ An anderer Stelle heißt es: „Weil ihnen ein faires Miteinander wichtig ist und sie ein gegebenes Wort auch halten.“ Diese Aussagen lesen sich schön, doch offensichtlich haben sich die Kreativen aus der Werbeagentur zu wenig mit der leidvollen Lidl-Geschichte befasst; die Wertschätzung von Mitarbeitern ist bei Lidl ein schwer vorbelastetes Thema.
So ein Risikothema hübscht man nicht für eine millionenschwere Werbekampagne auf, vor allem Dingen dann nicht, wenn der Konflikt immer noch schwelt. Nun besteht das Risiko, dass Lidl in die schwerste Reputationskrise seiner Unternehmensgeschichte zurückgeworfen wird. Die Gewerkschafter haben die Steilvorlage sofort genutzt. Der SWR berichtet in einer Reportage über weiterhin schlimme Zustände beim Discounter, bundesweit ziehen Print- und Onlinemedien nach.
Mitarbeiter sind in Kommunikationskrisen die gefährlichsten Akteure
Die Werber haben eine PR-Krise eröffnet, wo sie am gefährlichsten ist: im eigenen Haus. Mitarbeiter sind die gefährlichsten Krisentreiber, die es gibt. Sie kennen Interna. Sie können persönliche Schicksale schildern. Sie sind glaubwürdig. Und sie machen betroffen, denn es sind „Menschen wie Du und ich“. Obendrein hat Verdi das geschickte Spiel mit den Medien inzwischen perfektioniert. Wer sich mit den Gewerkschaftern anlegt, wird mit erschütternden Investigativberichten der öffentlich-rechtlichen Sender und bundesweiter Negativ-PR konfrontiert. Amazon & Co. lassen grüßen.
Dass Lidl mit seiner Werbekampagne dieses Minenfeld betreten hat, zeugt von einer schweren Fehleinschätzung der Kommunikationsrisiken im Haus. Schade, denn Lidl hat auch von vielen positiven Veränderungen zu berichten. Das geht jetzt unter.
Jörg Forthmann
Vielen Dank für den Beitrag. Mir war die LIDL-Kampagne ebenfalls aufgefallen, allerdings habe ich die Aussagen nicht wirklich ernst genommen. Was ich mich allerings frage, wie hoch können die Auswirkungen eines solchen Imageverlustes wirklich sein. Wir leben in einer medialen Welt, in der die Medien auch bei dem größten Skandal nach spätestens zwei bis drei Wochen aufhören, darüber zu berichten. Da werden dann wieder neue Reißerthemen gesucht, mit denen Klicks und Einschaltquote erzeugt werden können. Unsere Politik hat das ja in der Zwischenzeit perfektioniert. Regt sich bei bestimmten Themen zu viel Widerstand, werden sie erstmal ein paar Wochen auf Eis gelegt und wenn sich niemand mehr dafür interessiert, werden sie klammheimlich durchgeführt.
Deshalb meine Frage, selbst wenn sich hier nun ein großer Shitstorm entwickelt, wie groß kann der wirtschaftliche Schaden für LIDL wirklich sein? Klar werden einige Verbraucher für einen bestimmten Zeitraum davon absehen, bei LIDL einzukaufen, aber wie lange wird das halten? Ähnliche Fragen lassen sich auch für H&M und C&A stellen. Denkt heute noch ein Verbraucher an die niedergebrannte Fabrik in Bangladesh? Mich würde interessieren, ob es dazu Zahlen gibt, die die langfristige Umsatzentwicklung nach einem solchen Unglück oder einem PR-Gau wie bei LIDL zeigen.
Beste Grüße
Martin C. Wagner
Sehr geehrter Herr Wagner,
ich warne in der Tat auch oft davor, einen Shitstorm zu überschätzen, wenn es in Wahrheit ein Shit-Stürmchen ist. In diesem Fall ist die Gefahr für Lidl größer, denn Lidl war „dank“ des Schwarzbuches Lidl schon einmal das Synonym für die schlechte Behandlung von Mitarbeitern. In dieses Muster zurückzufallen, kann nicht das Interesse von Lidl sein.
Ob sich eine intensive negative Diskussion wirtschaftlich auswirkt, lässt sich nur schwer nachweisen, weil betroffene Unternehmen selten darüber öffentlich berichten. Ich kann Sie aber auf eine aktuelle Studie von Burda hinweisen, die „Kundenlieblinge“. Dort liegt Lidl in den Top Ten der beliebtesten Marken (untersucht wurden 500 große Marken). Die Untersuchung lief vor den Berichten über den vermeintlich schlechten Umgang mit Mitarbeitern bei Lidl. Diese sehr gute Platzierung ist sicherlich ein Ergebnis der millionenschweren Werbekampagne. Auf der anderen Seite liegt KiK zum Beispiel am Ende des Rankings; die fortwährenden schlechten Nachrichten haben die Beliebtheit von Kik nach unten gedrückt und das Unternehmen hat sich hiervon nicht erholt. In der Branche wird kolportiert, dass KiK spürbare wirtschaftliche Einbußen durch die Kommunikationskrise hatte.
Der stete Tropfen hölt den Stein, sagt der Volksmund. Und so ist es auch in der Krisenkommunikation. Wenn Negativnachrichten in hoher Frequenz über längere Zeit auf den Kunden einwirken, haben sie wirtschaftliche Folgen für das Unternehmen. Deshalb bewerte ich die Situation für Lidl derzeit auch für so gefährlich, denn Lidl sollte dringend vermeiden, in diese Lage zu geraten. Allerdings zeigt Verdi derzeit zum Beispiel bei Amazon, dass man durchaus sehr lange ein Unternehmen negativ in der Presse halten kann, um sich als Gewerkschaft durchzusetzen. Bei Lidl gibt es nur in 3 von 3.000 Filialen Betriebsräte, und das will Verdi unbedingt ändern. Deshalb fürchte ich, dass die Geschichte für Lidl nicht ausgestanden ist. Wie denken Sie darüber?
Beste Grüße
Jörg Forthmann
Ich denke, da haben Sie recht. Die wiederholten Anprangerung der gleichen Probleme bei Lidl wird eine stärkere Wirkung haben. Man sieht das ja bei Amazon, der Ruf des Unternehmens hat in der Zwischenzeit sehr gelitten. Das erfahre ich auch in meinem direkten persönlichen Umfeld. Viele Personen aus meinem Kollegen-, Freundes- und Familienkreis äußern sich negativ über Amazon und wollen dort weniger oder nichts mehr einkaufen. Aber, die Umsatzzahlen steigen trotzdem. Ich habe bei Amazon das Gefühl, dass sich das Unternehmen zur Bild-Zeitung des E-Commerce entwickelt – keiner liest die Zeitung, aber sie hat trotzdem 12 Millionen Auflage ;-).
Den Fall Lidl muss man weiter beobachten. Ich denke, dass da Verdi nicht locker lassen wird, eben weil sie durch die wiederholte Anprangerung einen stärkeren Stand hat.
Das ist das Ärgerliche an der Krisenkommunikation: Wie schlimm die Krise wirklich wird, weiß man leider immer erst nachher. Hoffen wir für Lidl, dass die Geschichte zügig ausklingt!
Beste Grüße aus Hamburg
Jörg Forthmann